· 

Geschichte von Paul, dem Schmetterling

 

Ihr kennt Steffi nicht, aber wenn ihr sie kennen würdet, würdet ihr sie mögen. Sie ist fünf Jahre alt und ihre langen braunen Haare hüpfen immer ein bisschen, wenn sie lacht. Doch vor gut einem Jahr passierte etwas Schlimmes. Ihr Bruder Paul, den sie über alles geliebt hatte, starb auf dem Gehweg vor ihrem Haus, weil dem Fahrer eines Lieferwagens seine Zigarette runtergefallen war. Er wollte sie aufheben, kam von der Straße ab und erfasste Paul, der gerade eine Katze streichelte. Die Katze überlebte, aber Paul war sofort tot. Er war zehn Jahre alt. Am Abend holten Mama und Papa sie gemeinsam vom Kindergarten ab. „Hallo Mariposa“, sagte Papa, und Steffi wusste sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Paul hatte sie immer Mariposa genannt. Das war spanisch und hieß Schmetterling. Er hatte immer gesagt, dass sie lachte, wie ein Schmetterling lachen würde, wenn er es könnte.

 

Papa und Mama weinten. „Was ist denn?“, flüsterte sie traurig.

„Paul ist gestorben“, sagte Mama. „Ein Auto hat ihn überfahren. Du musst jetzt ganz tapfer sein.“

Steffi umarmte ihren Vater und sagte: „Papa, er ist nicht tot. Er hat es mir gestern gesagt.“

„Oh meine arme kleine Maus“, sagte Mama, und wischte ihr die Tränen von den Wangen. „Dein Bruder ist wirklich nicht mehr da, aber in unseren Herzen wird er immer weiterleben.“

„Nein, Mama“, sagte Steffi, „es ist wahr. Er hat mir gestern Abend erzählt, dass er bald auf eine Reise gehen muss, weil er ein Engel ist und der liebe Gott ihn dringend braucht. Er hat gesagt, dass ich nie glauben soll, dass er tot ist, und er hat mir versprochen, dass er immer auf mich aufpassen und mich als Schmetterling besuchen wird, wenn ich ihn brauche. Seid nicht traurig.“

 

Doch Mama und Papa waren traurig. Sie redeten in den Tagen nach dem Unfall nur noch sehr wenig und weinten sehr viel, und wenn Steffi ihnen wieder erzählte, dass Paul gar nicht wirklich gestorben war, weinten sie nur noch mehr. Steffi hörte also auf, über Paul zu reden. Und sie beschloss, für den Mann zu beten, der ihren Bruder überfahren hatte. Er war schon zweimal da gewesen und hatte vor ihrer Tür geweint, – ein Mann, der sicher schon älter als 50 war, aber Papa hatte nicht aufgemacht. Ihr tat er leid.

 

Kurz vor Weihnachten lag sie in ihrem Bett, in dessen Kopfende ihr Bruder ein Jahr zuvor das Wort „Mariposa“ mit seinem Schnitzmesser reingeschnitzt hatte, und redete mit Paul. Sie flüsterte: „Hallo Paulchen Panther, bitte hilf mir. Unsere Eltern glauben nicht, dass du nicht tot bist. Bitte gib ihnen ein Zeichen.“ Am heiligen Abend standen sie alle im Schnee vor Pauls Grab und weinten. Mama, Papa, und die beiden Omas und Opas, die auch mitgekommen waren. Nur Steffi weinte nicht. Sie durfte Pauls Geschenke aufmachen. Im ersten Päckchen war ein kleiner Schutzengel, und aus dem zweiten kam ein wunderschönes Bild von Paul, auf dem er zwei der Nachbarskatzen umarmte. Dann machte Steffi das größte Geschenk auf: Es war ein Foto des schönsten Schmetterlings, den sie kannte: Ein blauer Morpho. Pauls Lieblingsschmetterling, von dem ein riesiges Poster in seinem Zimmer hing. Steffi lächelte und sagte: „Passt auf, gleich kommt Paul!“

Eine Sekunde später landete der Schmetterling von dem Foto auf Papas Schulter. Ihre Mama sah ihn, kniete sich in den Schnee und weinte und lachte gleichzeitig. Der Schmetterling flog zu ihr, setzte sich auf ihre Nase und streichelte ihr Gesicht mit seinen Flügeln. Dann flog er zu den Omas und Opas und setzte sich bei allen auf die Schulter, – und zum Schluss kam er zu Steffi. Auch bei ihr landete er auf der Nase. Sie spürte das zarte Streicheln seiner Flügel auf ihren Wangen und hörte die Stimme ihres Bruders leise sagen: „Frohe Weihnachten, Mariposa.“

Dann flog er einfach nach oben in den Himmel, bis sie ihn nicht mehr sehen konnten.

 

Am Abend, als alle am Esstisch saßen und der Duft von Brathähnchen und Lebkuchen in der Luft lag, klingelte es an der Haustür. Steffis Papa schaute durch den Türspion, wartete ein paar Sekunden, und machte dann die Tür auf. Es war der Fahrer. Er weinte und hatte ein Geschenk in der Hand. Ihr Papa umarmte ihn und sagte: „Es ist das Fest des Friedens. Kommen sie rein und seien sie unser Gast.“ Als der Mann zitternd seine Jacke auszog und ihre Mama sie ihm abnahm, musste Steffi auch weinen. Es waren gute Tränen. Der Mann setzte sich neben ihrem Papa an den Tisch, und plötzlich hörte sie ihren Bruder lachen. Sein unvergleichliches, glockenhelles Lachen schien von oben zu kommen. Die anderen mussten es auch gehört haben, denn sie schauten alle zur Zimmerdecke und lächelten. Ihr Papa sagte: „Paul ist da. Lasst uns essen. Frohe Weihnachten, alle miteinander!“

 

Aus dem wunderbaren Trost-Buch „Die Flügel sind die meinen“ von Michael Roth

Kommentar schreiben

Kommentare: 0